Entbehrlichkeit des Widerspruchsverfahrens

Abschaffung des Widerspruchsverfahrens

Seit geraumer Zeit gibt es Tendenzen, durch eine Öffnungsklausel in einzelnen Bundesländern das Widerspruchsverfahren zugunsten einer unmittelbaren Klagemöglichkeit des Betroffenen zum Verwaltungsgericht zurückzudrängen. Dies soll an den Beispielen Niedersachsen und Bayern deutlich gemacht werden.

Niedersachsen

In Vollzug der Verwaltungsgerichtsordnung nach § 8a des Niedersächsischen Ausführungsgesetzes zur Verwaltungsgerichtsordnung ist ein Widerspruchsverfahren nur noch notwendig in folgenden Fällen:

  • Verwaltungsakte, denen eine Bewertung einer Leistung im Rahmen einer berufsbezogenen Prüfung zugrunde liegt
  • Verwaltungsakte von Schulen
  • Baurecht
  • Immissionsschutzrechtliche Verwaltungsakte
  • Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz
  • Bodenschutzrecht
  • Naturschutz- und Landschaftspflegerecht
  • Wasserrecht
  • Chemikalien- und Sprengstoffgesetz; Geräte- und Produktsicherheitsgesetz; Strahlenschutz- und Röntgenverordnung
  • Unterhaltsvorschussgesetz.

Ein Widerspruchsverfahren ist darüber hinaus in beamtenrechtlichen Streitfällen (§ 192 Niedersächsisches Beamtengesetz) durchzuführen.

Bayern

Nach einem Pilotprojekt im Regierungsbezirk Mittelfranken hat der Freistaat Bayern seit dem 1.7.2007 das Widerspruchsverfahren weitgehend abgeschafft, mit der bayerischen Besonderheit, dass in bestimmten Fällen der Betroffene ein Wahlrecht hat, Widerspruch einzulegen oder direkt vor dem Verwaltungsgericht zu klagen (Art. 15 des Bayerischen Ausführungsgesetzes zur VwGO - BayAGVwGO). Ein Wahlrecht besteht

  • im Bereich des Kommunalabgabenrechts,
  • im Bereich des Landwirtschaftsrechts einschließlich des Rechts landwirtschaftlicher Subventionen sowie im Bereich des Rechts forstlicher Subventionen und jagdrechtlicher Abschussplanverfahren, im Bereich des Schulrechts einschließlich des Rechts der Schulfinanzierung und Schülerbeförderung,
  • in den Bereichen des Ausbildungs- und Studienförderungsrechts, des Heimrechts, des Kinder- und Jugendhilferechts, der Kinder-, Jugend- und Familienförderung, des Kriegsopferfürsorgerechts, des Schwerbehindertenrechts, des Unterhaltsvorschussrechts, des Wohngeldrechts, des Rundfunkgebührenrechts und im Rahmen der Förderungen nach dem Europäischen Sozialfonds (ESF-Förderung), soweit jeweils der Verwaltungsrechtsweg eröffnet ist,
  • in Angelegenheiten der Beamten der in Abs. 2 genannten juristischen Personen des öffentlichen Rechts mit Ausnahme des Disziplinarrechts,
  • bei personenbezogenen Prüfungsentscheidungen.

Entbehrlichkeit des Widerspruchsverfahrens

Im Übrigen ist das Widerspruchsverfahren gemäß § 68 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung vor Erhebung einer Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage zwingend durchzuführen. Etwas anderes gilt nur dann, wenn

1) ein Gesetz dies bestimmt. Wichtigste Fälle:

§ 70 VwVfG
Das Widerspruchsverfahren ist dann entbehrlich, wenn der Verwaltungsakt in einem förmlichen Verfahren (vgl. Art. 63 ff. BayVwVfG) oder in einem Planfeststellungsverfahren (vgl. Art. 74 Abs. 1 BayVwVfG) erlassen wurde.
Beispiel: Wird die Anfechtung eines in Bayern ergangenen wasserrechtlichen Planfeststellungsbeschlusses (§ 31 Abs. 2 S. 1 WHG) begehrt, so entfällt gemäß Art. 83 Abs. 1 BayWG i.V.m. Art. 74 Abs. 1 S. 2 und 70 BayVwVfG die Notwendigkeit des Vorverfahrens.

Art. 15 BayAGVwGO (Bayerisches Ausführungsgesetz zur Verwaltungsgerichtsordnung)
Betrifft vor allem immissionsschutzrechtliche Entscheidungen, die Anfechtung von Aufsichtakt gegen Landkreise, Große Kreisstädte und kreisfreie Städte sowie Entscheidungen über Satzungen nach dem Baugesetzbuch (z.B. Flächennutzungsplan oder Bebauungsplan.

2) Der Verwaltungsakt von einer obersten Landes- oder Bundesbehörde erlassen wurde.

3) Wenn ein Abhilfe- oder Widerspruchsbescheid erstmalig eine Beschwer enthält. Eine erneute Überprüfung ist dann nicht nötig. Dies betrifft vor allem Fälle der Einlegung eines Widerspruchs durch Dritte, wenn die Abhilfe- oder Widerspruchsentscheidung zu Lasten des Bescheidsadressaten ging und der Widerspruch des Dritte (ganz oder teilweise) Erfolg hatte. Bedeutung hat dies vor allem im Baurecht.

reformatio in peius

Eine besondere Fallgruppe hierzu ist die sog. reformatio in peius: Hier beschwert die Widerspruchsbehörde den Widerspruchsführer zusätzlich, in dem sie die Entscheidung der Ausgangsbehörde zu dessen Ungunsten verschlechtert.
Die Zulässigkeit der reformatio in peius ist weitgehend anerkannt. Formell ist es jedoch notwendig, dass

  • Ausgangs- und Widerspruchsbehörde identisch sind
  • beide demselben Rechtsträger angehören (Staat)
  • die Widerspruchsbehörde auf den konkreten Fall bezogen die Fachaufsichtsbehörde der Ausgangsbehörde ist, also der Verwaltungsakt im übertragenen Wirkungskreis erlassen wurde (hier könnte aufgrund desgleichen Kompetenzrahmen auch eine Abänderung im Rahmen einer Weisung gegenüber der Ausgangsbehörde erfolgen, die Möglichkeit einer Verböserung ist daher verfahrensökonomisch).

Materiell wendet die Rechtsprechung die Grundsätze über die Rücknahme und den Widerruf von Verwaltungsakten an, vgl. § 48 und 49 VwVfG. Es ist daher abzuwägen zwischen dem Vertrauen des Betroffenen auf Bestand der behördlichen Entscheidung und dem öffentlichen Interesse an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns.

4) Rügelose sachliche Einlassung im Verwaltungsprozess (von der Rechtsprechung entwickelt, u.a. BVerwG NVwZ 1988, 721). Die sich einlassende Behörde zeigt hier, dass sie einem eventuellen Widerspruch nicht abgeholfen hätte.

5) Ferner in den Fällen des § 75 VwGO (Untätigkeitsklage).