Das sog. "Rheinweiler-Urteil"

Der Bundesgerichtshof (BGH) hat die Problematik der Eisenbahnsicherheit in einer richtungsweisenden Entscheidung (Urteil vom 10. Oktober 1978 - VI ZR 98 und 99/77 - Versicherungsrecht (VersR) 1978 S. 1163 ff.) umfassend abgehandelt.

Die Vorgeschichte war, daß sich 1971 zwei ähnliche, schwere Eisenbahnunfälle ereignet hatten:
Wegen überhöhter Geschwindigkeit in der Kurve entgleisten am 9. Februar 1971 bei Aitrang (Strecke München Lindau) der TEE (TransEuropaExpress) 56, am 21. Juli 1971 bei Rheinweiler (Strecke Basel Karlsruhe) der D 370.

Warum die Lokomotivführer die Geschwindigkeit vor der Kurve nicht vermindert hatten, blieb ungeklärt, weil beide bei den Unfällen ums Leben kamen. In beiden Fällen lag eine Verkettung von schon im Einzelnen sehr wenig wahrscheinlichen Umständen vor.

Der BGH, der über die Schmerzensgeldansprüche von zwei bei Rheinweiler verletzten Reisenden zu entscheiden hatte, verneinte ein Verschulden der Mitarbeiter und der Organe der DB, weil sie zur Zeit des Unfalls alles in ihrer Macht stehende getan hatten, um ein Programm zur Ausrüstung von Langsamfahrstellen mit induktiver Zugsicherung durchzuführen, das nach den Erfahrungen des Unfalls von Aitrang angeordnet worden war.

Der BGH stellte fest, daß

  • der bei dem Unfall getötete Lokomotivführer ordnungsgemäß ausgewählt, angeleitet und überwacht worden war,
  • die Organe und Mitarbeiter der DB alle geltenden und bekannten technischen Sicherheitsvorschriften eingehalten hatten,
  • das Triebfahrzeug, eine Lokomotive der Baureihe E 103, den technischen Anforderungen entsprochen hatte,
  • die Sicherheitsfahrschaltung (§ 28 Abs. 1 Nr. 6 EBO) der E 103 sich im Rahmen der internationalen Bedingungen gehalten hatte,
  • der Einmannbetrieb auf der E Lok nach § 45 Absatz 1 EBO zulässig gewesen war und
  • die leicht erkennbare Langsamfahrstelle nach dem technischen Standard zur Unfallzeit nicht zusätzlich durch induktive Zugbeeinflussung (§ 15 EBO) gesichert werden mußte.

Zu grundsätzlichen Fragen der Sicherheit führte der BGH aus:

  • Die DB schaffe durch ihren Eisenbahnbetrieb ganz erhebliche Gefahren. Daraus ergebe sich die Verpflichtung, diesen Gefahren mit allen technisch möglichen und zumutbaren Mitteln zu begegnen.
  • Wo sie das Risiko der Gefährdung anderer nicht nach menschlichem Ermessen sicher beherrschen kann, muß sie auf eine Erweiterung und Verbesserung des Betriebes, etwa zur Erzielung höherer Geschwindigkeit, verzichten.
  • Es sei offensichtlich, daß nicht jedes Risiko ausgeschlossen werden könne. Verkehrssicherheit, die jede Gefahr ausschließt, sei nicht erreichbar.
  • Je größer die Gefahren für die Sicherheit seien, umso höher müßten die Anforderungen an die Verkehrssicherungspflichten sein.
  • Die Organe der DB hätten diejenigen Sicherheitsvorkehrungen zu treffen, die sie nach dem jeweiligen Stand der Technik als verständige, umsichtige, vorsichtige und gewissenhafte Fachleute für das Eisenbahnwesen erstens für ausreichend halten dürften, um Personen vor Schäden zu bewahren, und die zweitens den Umständen nach zumutbar sind.

Aus diesen Grundsätzen leitete der BGH für den Unfall Rheinweiler ab, daß kein unabweisbares Bedürfnis bestanden habe, nach dem Unfall von Aitrang Sofortmaßnahmen zur Gefahrenabwehr zu treffen, weil sich das bis dahin allgemein für ausreichend erachtete Maß an Sicherheit nicht verringert und das für erlaubt gehaltene Risiko des Eisenbahnbetriebs nicht vergrößert hätte.

Hieraus kann die Folgerung gezogen werden, daß es nicht nötig ist, nach theoretischen Gefahren Ausschau zu halten, um ihnen mit mehr oder weniger kostspieligen Sicherheitsmaßnahmen zu begegnen.

Wenn aber - im ungünstigsten Fall - durch einen Unfall, sonst durch bekannt gewordene Gefährdungen oder Beinaheunfälle Schwachstellen der Betriebssicherheit bekannt geworden sind, ist es Aufgabe der "verständigen, umsichtigen, vorsichtigen und gewissenhaften Fachleuchte für das Eisenbahnwesen" - so der BGH - die zu treffenden Sicherheitsmaßnahmen zu bestimmen.